24.01.2024

Schlechtes Gewissen wegen Ablenkung

Wir haben verinnerlicht, Zeit jederzeit optimal produktiv nutzen zu müssen.

Zeit optimal nutzen

Du bestimmst, wie du mit deiner Zeit umgehst. Wie stark fühlst du dich dadurch unter Druck?

Kürzlich in einem Coaching: der Coachee berichtete, dass es ihn stört, wenn er sich beim Schreiben an seiner Masterarbeit ablenken lässt. Es ist nicht so, dass er sich für das Schreiben der Masterarbeit motivieren oder überwinden müsse oder dass er den Abgabetermin nicht einhält. Aber wenn er am Schreiben ist, verliert er sich immer wieder im Internet. Das Mobiltelefon legt er deshalb bewusst weg, damit diese Ablenkungsquelle abgestellt ist. Doch das World Wide Web ist beim Computer immer nur einen Klick entfernt. Und für die Masterarbeit ist er aus Recherchegründen auf das Internet angewiesen. Diese Ablenkungsquelle lässt sich nicht so einfach abstellen.

Zeit «einsparen»

Im Coaching gingen wir auf diese Momente etwas genauer ein. Was ärgert ihn daran, wenn er sich während einer Stunde Schreibarbeit zehn Minuten im Internet verliert? Er ärgert sich, weil er schneller fertig sein könnte. Er hätte an einem Nachmittag vielleicht 30 bis 40 Minuten «einsparen» können. Was er denn mit dieser «eingesparten» Zeit gemacht hätte? Er hätte dann «gechillt» und sich erholt. Als ihm bewusstwurde, dass er dies statt «en bloc» halt auf den Nachmittag verteilt gemacht hat (sozusagen «on the way»), ist sein schlechtes Gewissen bereits kleiner geworden.

Gründe der Ablenkung

Und dies ist die interessantere Frage: Warum haben wir ein schlechtes Gewissen, wenn wir uns bei der (hochkonzentrierten) Arbeit ablenken lassen? Schliesslich gibt es gute Gründe, kleine Pausen einzulegen. Schul- und Unterrichtslektionen beispielsweise dauern 45 Minuten, dann gibt es eine Unterbrechung, um den Kopf (und den Körper) durchzulüften. Und manchmal stockt der Schreibprozess. Dann ist es hilfreich, etwas ganz anderes zu tun, damit die Gedanken wieder in Bewegung kommen. Stures Dranbleiben würde das Denken nur (noch mehr) blockieren.

Schlechtes Gewissen wegen verinnerlichtem Druck

Das Problem ist bei diesem Coachee nicht so gravierend, dass es erhebliche Konsequenzen wie Nichtbestehen der Masterprüfung hätte. Woher kommt also das schlechte Gewissen? Zumal in dieser Situation ja niemand von aussen (kein Chef) auf hohe Effektivität und Produktivität drängt. Offenbar kommt das Gefühl aus uns selber. Haben wir den Optimierungs-, Effizienz- und Produktivitätsdruck, den es in unserer (westlichen) Welt gibt, so stark verinnerlicht, dass wir uns selber schlecht fühlen, wenn wir nicht das Optimum herausholen?

Schlechtes Gewissen als Resultat eines mentalen Modells

Eine Hypothese: Angenommen, du würdest dich jeweils ganz fest zusammenreissen und den Ablenkungen widerstehen. Du würdest vermutlich schneller fertig. Was würdest du mit der gewonnenen Zeit tun? Wie attraktiv ist das, was du in dieser Zeit tun könntest? Wenn es genügend attraktiv wäre, würdest du «alles» daransetzen, dies zu erreichen – und so mit der Arbeit vorwärts machen. «Verschwendung» in Form von Ablenkung würdest du von dir aus vermeiden.

Im Umkehrschluss bedeutet das, dass es offenbar nicht genügend attraktiv ist, sich nicht ablenken zu lassen – die Ablenkung also attraktiver ist. Entsprechend ist alles in Ordnung und ein schlechtes Gewissen erübrigt sich. Das schlechte Gewissen ist vermutlich ein Resultat des mentalen Modells, dass wir uns nicht ablenken lassen dürfen, weil das unsere Produktivität einschränkt.

Umgang mit seiner Zeit

Schlussendlich bestimmst du, wie du mit deiner Zeit umgehst. Gewisse Rahmenbedingungen (z.B. Abgabetermin) gilt es anzunehmen und die Möglichkeiten innerhalb des Rahmens clever zu gestalten. Und in einer Zeit, in der so viel von uns gefordert und abverlangt wird, ist es auch völlig okay, sich vom permanenten Optimierungs- und Produktivitätsstreben zu lösen und sich etwas zu gönnen (z.B. Ablenkung/Erholung).

Falls Ablenkungen für dich ein Thema sind, können dir diese Fragen helfen:

  • Wäre es nicht auch okay, wenn wir – gerade wenn wir für uns selber arbeiten – das Tempo so setzen, dass es für uns selber optimal ist (quasi unserem «Biorhythmus» entspricht)?
  • Was ist für mich ein guter Rhythmus von Konzentration und Entspannung?
  • Was will mir das Abgelenkt-werden sagen? Brauche ich das? Ist das ein Bedürfnis von mir (meinem Körper, meinem Geist)? Oder ist es schlicht Faulheit/Unlust an der Arbeit?

Autor

Beat Kunz

Beat Kunz ist Organisations- und Kommunikationsberater. Im Blog berichtet er aus seiner vielfältigen Tätigkeit bei crearium.

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