17.07.2019

Den Blickwinkel wechseln

Wir sehen die Dinge nicht, wie sie sind. Wir sehen sie so, wie wir sind. (Anais Nin)

Blickwinkel

Jeder Mensch beschreibt ein Bild anders.

Die Erarbeitung von Werten, Prinzipien und Regeln für die gemeinsame Zusammenarbeit braucht Zeit und Raum. Insbesondere dann, wenn die Gruppe sehr heterogen und neu zusammengesetzt ist. Gerade letzte Woche habe ich in einem Führungsgremium die achtsame Vorbereitung als wichtig erlebt, da Wörter je nach Herkunft oder auch beruflicher Ausrichtung unterschiedlich besetzt sind. Als Vorbereitung wende ich darum gerne die Übung «Blickwinkel» von Sivasailam Thiagarajan an. Wie diese Übung geht, davon handelt dieser Blogbeitrag.

Ein Bild – ein Wort

Auf dem Tisch liegt verdeckt ein Bild. Sobald das Bild umgedreht und somit sichtbar wird, wählen die Teilnehmer und Teilnehmerinnen still für sich ein Wort aus, das ihnen spontan zu diesem Bild in den Sinn kommt. Alle schreiben ihr Wort auf eine Karte und legen diese verdeckt vor sich hin. Immer noch in der Stille werden nun alle Karten aufgedeckt und die einzelnen Worte werden sichtbar und von allen gelesen. Nun folgt die nächste Runde. Alle in der Runde versuchen ein Wort zu schreiben, das immer noch mit dem Bild zusammenhängt und gleichzeitig ein Wort ist, das von den meisten in der Gruppe verwendet werden könnte. Also die Gruppe versucht, sich ohne Kommunikation auf ein Wort zu diesem Bild einzuschwören. Das kann das gleiche Wort wie in der ersten Runde sein oder auch ein Neues. Auch hier notiert jeder Teilnehmer und jede Teilnehmerin das Wort auf eine Karte und dreht die Karte um. Sobald alle fertig notiert haben, werden die Karten wieder aufgedeckt und die Wörter gezeigt.

Gemeinsamer Austausch

Auch in der zweiten Runde wird es kaum Wortwiederholungen geben. Um die gemeinsame Reflexion anzuregen, helfen folgende Fragen:

  • Am Anfang sahen alle das gleiche Bild und hatten die gleiche Aufgabe. Trotzdem notierten wir unterschiedliche Wörter. Wie kam es dazu?
  • Gibt es Begriffe, die näher beieinander sind und gibt es da ein Erkennungsmerkmal der Menschen und der Gruppenzugehörigkeit? (Männer/Frauen/Jung/Alt usw.)
  • Welches Wort würde eine Person wählen, die zum Beispiel aus Indien stammt? Oder noch ganz jung/alt ist?
  • Wenn wir mehr als nur ein Wort zur Verfügung gehabt hätten, gäbe es dann mehr Gemeinsamkeiten? Wäre es einfacher gewesen und wenn ja, warum?
  • Im Versuch, als Gruppe ohne die Möglichkeit der Kommunikation ein Wort aufzuschreiben, welche Strategien wurden dabei verwendet, um die Aufgabe zu erfüllen?

Auch an diesem Workshop war die Essenz der Reflexion sehr aufschlussreich. Hier nur das Wichtigste: Unterschiedliche Menschen konzentrieren sich auf unterschiedliche Aspekte in der Beobachtung. Diese Unterschiede werden von verschiedenen Faktoren wie beispielsweise Sozialisierung oder berufliche Zugehörigkeit beeinflusst. Auch wenn wir versuchen, uns in andere Menschen hineinzuversetzen, gelingt es uns nur manchmal bis selten. Was wir sehen, hat sehr viel mit uns selbst zu tun.

Nutzen dieser Übung

Der grosse Nutzen dieser Übung besteht für mich darin, dass bereits alle schon mal geübt haben, den Blickwinkel zu wechseln. Ein weiterer Punkt sehe ich darin, dass – obwohl wir alle das gleiche Bild oder Wort betrachtet haben – je nach Erfahrung unterschiedliches darunter assoziiert wurde. Auch in der Wertearbeit, auf der Suche nach Regeln oder Prinzipien wird das passieren. Denn zum Beispiel versteht jeder etwas anderes unter dem Begriff «Verantwortung tragen». Der gemeinsame Abgleich darüber braucht es, um sich als Gruppe gemeinschaftlich orientieren zu können und um sich auf Begrifflichkeiten einigen zu können.

Quelle: Sivasailam Thiagarajan, Annette Gisevius, Samuel van den Bergh, Tom Kehrbaum. Interaktive Trainingsmethoden 2. Wochenschau Verlag (2019).

Autorin

Luzia Anliker

Luzia Anliker ist Beraterin und Coach. Im Blog berichtet sie aus ihrer langjährigen und vielfältigen Tätigkeit bei crearium.

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